Hegelsaal
Im Kultur- und Kongresszentrum Liederhalle Stuttgart
Prof. Dipl.Ing. Rudolf Schricker
Normalerweise haben Kongresssäle andere raumakustische Anforderungen als Konzertsäle.
Räume für das gesprochene Wort fordern für Sprachverständlichkeit kurze Nachhallzeiten, kleinere Raumdimensionen und Absorption an Wänden und Decken. Räume für die Musik versuchen den musikalischen Hörgenuss durch lange Nachhallzeiten, größere Räume und mannigfaltige Reflexion zu gewährleisten.
Für Investoren und Planer stellt diese Dialektik zweier völlig verschiedener Akustikhemisphären vor ein Dilemma: wie können so verschiedene Anforderungen an Raumgröße, -form und Oberflächenbeschaffenheit in einem Raum baulich erfüllt werden?
Aufwand für Hyperflexibilität, variabler Konstruktion, trotzdem nachhaltig und nutzerfreundlich, scheint unkalkulierbar und schwer zu beherrschen.
Zudem verfügen Säle mit anspruchsvoller Akustik gewöhnlich über nicht eine Raumakustik, sondern drei. Die gängigste Hörperspektive ist die des zuhörenden Publikums: Inhaltliches Verständnis gehörter Wortinformation beim Vortrag und wahrgenommenes Klangbild eines Konzerts dienen dazu, kognitive Erkenntnis und künstlerisches Erlebnis abzurunden und den richtigen Rahmen zu setzen.
Eine zweite Raumakustik klingt im Ohr des Redners oder des Dirigenten. Er steht mittig und direkt vor Zuhörern und den Musikern und nimmt daher ein viel stärkeres, lauteres und kraftvolleres Hörerlebnis als das Publikum auf. In direkter Nähe zum Publikum und zum Orchester wirken sich die unterschiedlichen Entfernungen zu verschiedenen Hörerohren stärker aus, daher ist das Mischungsverhältnis der einzelnen Töne untereinander am Standort des Rezipienten bzw. am Platz des Dirigenten ein anderes als im Publikum. Die besondere Aufgabe des Vortragenden versus Dirigenten ist es, diesen Unterschied mitzuhören, mitzudenken und zu inszenieren, so dass Hörerlebnis nicht am Pult, sondern im Publikum optimal ist.
Die dritte akustische Charakteristik eines Saals mit Hörqualität betrifft die Protagonisten auf der Bühne selber und untereinander, also Redner, Schauspieler und Musiker. Hier geht es nicht so sehr um ästhetische, als eher um technische Anforderungen. Um das Zusammenspiel zu synchronisieren, ist eine präzise Hörbarkeit aller sprechenden und spielenden Interpreten untereinander erforderlich. Wegen gegenseitiger Verdeckung und Überlagerung von Klängen sind dafür unterstützende Reflexionen der Podiumsbegrenzungen und der Decke unerlässlich. Das Zusammenspiel zwischen Klangkörper und Raum entwickelt sich in Sälen mit eher trockener, nüchterner Charakteristik anders als in einem Ambiente mit vollem Klangbild. Das kann bedeuten, dass sich insbesondere in multifunktionalen Sälen ein optimales Zusammenspiel von Raum, Publikum, Interpreten und Klangkörper erst nach einer Eingewöhnungsphase aller Beteiligten ergibt.
Ein „Stimmen“ des Raumes mit der eigenen Stimme oder dem eigenen Instrument ist meist unerlässlich.
Mehrere Säle in einem
Raumakustik trägt wesentlich dazu bei, den Räumen nicht nur funktionale und bauphysikalische Tüchtigkeit zu bescheinigen, vielmehr Bedeutung zu verleihen, Raumbezug zu ermöglichen und Interaktion Raum-Menschen zu evozieren.
Der Hegelsaal im Kultur- und Kongresszentrum Liederhalle in Stuttgart ist ein ganz herausragendes Beispiel raumakustischer Phänomenologie. Planungs- und Bauprozesse laufen über Jahre; der Einfluss der Akustiker ist enorm. Auftraggeber und Bauherrschaft artikulieren munter Wünsche und Vorstellungen. Form, Größe und Ausstattung des Raumes sind zunächst und in der Hauptsache auf Tagungs- und Kongressnutzung konzipiert.
Neben dem seit 1956 bestehenden Beethovensaal, renommiert und als Konzertsaal über Jahre bewährt, entsteht 1991 mit dem Hegelsaal in Ergänzung und als Pendant dazu ein Saal für das gesprochene Wort.
Neben Musik und Kunst wird nun fortan mit dem Gesamtensemble Kultur- und Kongresszentrum Liederhalle Stuttgart einem erhöhten Informations- und Kommunikationsbedarf in der Gesellschaft Vorschub geleistet. Raumentwicklung für Denker und Diskutanten steht auf der Agenda.
Anders als Architekt Rolf Gutbrod in den 50er Jahren beim der organischen Bauform entsprechenden Beethovensaal der aus den Trümmern wiedererstandenen Nachkriegsgesellschaft Hoffnung und Freude an der Musik vermittelt, gelingt es Architekt Wolfgang Henning in den 90er Jahren mit der Erweiterung um den nach anthroposophischen Maßstäben geplanten Hegelsaal, Raum für zu Schaffen für Reflexion und Vision.
Für das seinerzeit neu gegründete Innenarchitekturteam S+H Interior Design Schricker + Henning steht die räumliche Anregung zum Denken und Diskutieren im Fokus. Gute Raumakustik definiert sich zunächst durch erwartbare Sprach- und Satzverständlichkeit, durch Klarheit und Deutlichkeit, mit der gesprochene Wörter und Sätze unverfälscht wahrgenommen werden. Referenten, Vortragende und konzentrierte Zuhörer brauchen Konzentration störendes und Aufmerksamkeit irritierendes Echo und langen Nachhall nicht fürchten. Erforderliches Absorptionsvermögen von Raumdecken und Wänden wird gewährleistet und unerwünschte Reflexion verhindert.
Je länger Planungs- und Bauprozesse dauern, desto vielfältiger Forderungen und Erwartungen späterer Nutzer. Vielzwecküberlegungen und Effizienzgedanken von Investoren und Auftraggebern bringen Planer und Akustiker ins Schwitzen. Zunächst auf Tagungen und Kongresse fokussiert, wird der Hegelsaal ganz auf Kognition und Rationalität konzipiert. Die erörterte Möglichkeit von Theater und Schauspiel scheint raumakustisch machbar. Erst die behutsam erörterte, dann aber deutliche Forderung nach „Doppelnutzung“ – also Sprache und Musik - verändert das ursprüngliche Raumkonzept völlig.
Akustiker apostrophieren diese Forderung als „physikalische Unmöglichkeit“, gestellt aus Unverständnis der Materie. Ein akustisch überzeugender Saal für Musik und gleichzeitig für Sprache erscheint in einem Raum nahezu unvorstellbar; zu groß die Unterschiede im Anforderungskatalog hinhörlich räumlicher Nachhallzeiten, Verteilung von Absorption und Reflexion, Materialeigenschaften, Dimension und Wirkung.
Planer begegnen dieser Forderung nach „Sowohl als auch - Nutzung“ oft mit dem Kalkül eines flexiblen Raumes mit größerer Veränderungsmöglichkeit und Variabilität: gewissermaßen mehrere Säle in einem, multifunktional und mobil, verwandelbar und hypermutierend. Einhergehende Aufwands- und Kostensteigerungen in Folge erweisen sich meist als unermesslich.
Das Dilemma löst sich häufig auf, wenn zunehmender Komplexität der Forderungen mit integrativer Transdisziplinarität und Kompensation begegnet wird. Mitunter trifft der Bauherr auch Entscheidungen, die diesen neu zu denkenden Lösungsprozess erst ermöglichen. Mitunter geschehen auch Wunder und Bauherrnentscheidungen, motiviert durch Überlegungen einer optimierten späteren Raumnutzung und Schaffung von Originalität, die den Auftrag um die Planung eines Oberlichtes im Hegelsaal erweitert. Tageslicht aus dreißig Meter Höhe in einem ansonsten fensterlosen Raum stellt alle Beteiligten vor neue interdisziplinäre Herausforderungen.
Lichtplaner überlegen, wie mit Licht tagsüber und in der Dunkelheit flexibel umgegangen werden kann. Das Oberlicht offenbart die Notwendigkeit einer „Zwischendecke“, die das Raumvolumen und die Raumhöhe auf erträgliches Akustikniveau halbiert und gleichzeitig optisch „unsichtbar“, da lichtdurchlässig erscheinen lässt.
Die Glassegeldecke übernimmt fortan diese Multifunktion und wird zum Inszenierungsmedium, das Lichtwirkung variiert und verschiedene Lichtebenen und Raumwahrnehmungen steuert. Geboren werden unterer und oberer Lichtraum und Metaphern wie „Erleuchtung“, „Licht der Erkenntnis“ und „Hegel-Blau“, in jedem Fall Garantie für die Symbiose von emotionaler Gestimmtheit und Erkenntnis.
Frappierend: die Glassegeldecke an sich ist statisch fixiert und wenig veränderbar, dennoch megaflexibel in visueller und akustischer Wirkung und Ausdruck; mehr noch: durch den Einzug der Glassegel entstehen zwei unterschiedliche Raumvolumina – eines unter und eines über den Gläsern. In Folge verhält sich die Raumakustik ambivalent, jedoch zielgenau in Bezug auf differenziert hörende Ohren phänomenal.
Durch die Einfügung der geformten und transparenten Glassegel wird der ursprünglich sehr hohe Raum jetzt halbiert und gegliedert in ein unteres Raumerlebnis für und mit Menschen und ein oberes Raumgefüge mit Lichtkuppel für Geist und Impression.
Positiv dramatisch und spektakulär ist das daraus resultierende Schallverhalten und Klangempfinden, denn bei musikrelevanten Frequenzen verhält sich das Klangverhalten und das Hörerlebnis als ob nur das untere Raumvolumen samt Reflektorenebene als akustische Decke anwesend wäre und der darüber liegenden Kuppelraum masseverstärkend Reflexion unterstützt, zum anderen wird angenehm hörbar, wie sehr die Forderung nach kurzen Nachhallzeiten für Verständlichkeit gesprochener Worte durch das über den Glasreflektoren angeordnete immense Raumvolumen erfüllt und eine riesige Absorptionsmasse wirksam werden lässt.
Glas erweist sich als ideales Material, um bei divergierenden Wirkanforderungen integrative und variable Wahrnehmungen zu ermöglichen, die am Ende auch messbar und verifizierbar sind. Ohne Konstruktion und Statik zu verändern, erweist sich durch die Einbringung des Glassegel der architektonische Gesamtraum als raumakustisches Chamäleon, das für den engen Frequenzbereich menschlicher Sprache (500 bis 3000 Hertz) die entsprechende geforderte Nachhallzeit unter 1 Sekunde gewährleistet, indem das obere Raumvolumen wie Absorptionsmasse wirkt und Erstreflexion der Stimme durch die Glassegel gezielt ins Auditorium gelenkt wird. Im Frequenzbereich über 1000 Hertz verhält sich der Raum so, als ob das Raumvolumen oberhalb der Reflektorenfläche nicht vorhanden wäre. Das für den Musikgenuss wesentliche und breite Frequenzrepertoire zwischen 100 Hertz und 15000 Hertz wird durch die mannigfaltigen Reflexionen durch gebogene Gläser wunderbar bedient und sind durch Absorption der Rückwände und Deckenrandbereiche ausbalanciert.
In den vergangenen Jahren zeigt sich im direkten Vergleich mit dem Beethovensaal, dass der Hegelsaal im unteren Frequenzbereich eine etwas längere Nachhallzeit aufweist, während in den höheren Frequenzbereichen beide Säle sich annähernd gleichen.
Heute ist der Hegelsaal ein ebenso anerkannter Kongresssaal wie auch bevorzugter Konzertsaal für moderne Musik.
Fotos Hegelsaal
©Kultur-und Kongresszentrum Liederhalle-Florian Selig